Interview mit Bischof Pavlo Shvarts

Nachricht Berlin, 19. Dezember 2022
Bischof Pavlo Shvarts
Bischof Pavlo Shvarts

„In der Kirche geht es für mich in erster Linie um Menschen und Gott.“

Bischof Pavlo Shvarts zur Situation der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine

Der Krieg gegen die Ukraine dauert jetzt schon fast zehn Monate. Für die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine hat sich in diesen Monaten sehr viel verändert.

Viele Gemeindemitglieder haben Ihre Heimat verlassen, teils sind sie Binnenflüchtlinge, teilweise auf viele Länder verstreut. Das Gemeindeleben funktioniert nicht wie bisher.

Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt? Was waren Ihre ersten Gedanken?

Der Morgen des 24. Februar begann früh. Wir wachten von Explosionen in Charkiw und Umgebung auf. Meine Frau und ich packten unsere Sachen ins Auto, und wir fuhren mit unseren drei Kindern nach Krementschuk, wo sich eine meiner Gemeinden befindet. Wir hatten nicht viel Zeit zum Nachdenken. Bereits auf dem Weg (und wir brauchten fast drei Stunden, um Charkiw zu verlassen) riefen wir unsere Gemeindemitglieder an, um nach einer Übernachtung in Krementschuk zu fragen. Ich habe auch dafür gesorgt, dass jemand meine Familie weiter in den Westen bringt, damit ich am nächsten Tag nach Charkiw zurückkehren kann. Unterwegs sprachen wir mit den Kindern über den Krieg, um sie zu beruhigen. Wie bei den meisten unserer Prediger waren die ersten Wochen eher mit Taten als mit Gedanken gefüllt. Die Gedanken kamen später.

Ihre Kirche ist relativ klein, und der Krieg hat sie besonders schwer getroffen. Charkiw, der Sitz Ihrer Verwaltung, war gleich zu Beginn des Krieges Schauplatz schwerer Angriffe. Gemeindeglieder sind in Orten, die jetzt unter russischer Besatzung stehen.

Was sind derzeit die größten Herausforderungen für Ihre Kirche? Welche konkreten Probleme haben Sie? Haben Sie überhaupt Kontakt zu allen Kirchengemeinden?

Zum Glück ist nur noch eine unserer Gemeinden besetzt, wenn wir den Donbass außer Acht lassen, wo es bereits vor dem 24. Februar 2022 problematisch war, zu arbeiten und Gottesdienst zu feiern. Wir stehen im Winter vor vielen Herausforderungen und die meisten davon beziehen sich darauf, den Menschen zu helfen, diese Zeit zu überstehen und sie spirituell zu unterstützen. Was wir jetzt wahrscheinlich am meisten brauchen, sind Geistliche und Freiwillige (auch aus anderen Ländern), die bereit sind, Menschen zu dienen und einfach bei ihnen zu sein. Ich bin überzeugt, dass wir noch mehr tun können, obwohl ich all unseren Gemeindemitgliedern und Pastoren, die all diese Monate aktiv gedient haben, so dankbar bin. Ich habe nur zwei Gemeinden (im Bereich Cherson und Sumy) in den besetzten Gebieten, die ich während des Krieges nicht besucht habe, und ich hoffe, mit Gottes Hilfe, dies in naher Zukunft zu tun.

Sie haben in den vergangenen Monaten mit sehr großem persönlichem Einsatz ganz konkrete Hilfe geleistet. Immer wieder bringen Sie mit einem Kleinbus Hilfsgüter und Lebensmittel in den Osten, bringen Menschen aus umkämpften Gebieten in Sicherheit.

Gibt es etwas, für das Sie trotz der schrecklichen Ereignisse und der sehr ungewissen Lage dankbar sind?

Zuallererst danke ich unseren Pfarrern und Freiwilligen, die in dieser schwierigen Zeit treu dienen. Ich bin Gott für seine Unterstützung dankbar und danke allen, die sich bemüht haben, dem ukrainischen Volk zu helfen.

Gibt es ein Kirchengebäude oder einen anderen konkreten Ort, der Ihnen persönlich sehr wichtig ist, der vielleicht ein Stück weit die Identität Ihrer Kirche verkörpert und den Sie uns kurz beschreiben möchten?

In der Kirche geht es für mich in erster Linie um Menschen und Gott. Und obwohl Gebäude für den Dienst unbestreitbar wichtig sind, ist selbst die kleinste Gemeinde wertvoller als das wunderschön restaurierte Gebäude der Paulskirche in Odessa.

Sehr geehrter Herr Bischof Shvarts, wir bedanken uns, dass Sie im Zeichen all der Herausforderungen, in der Sie und Ihre Kirche stehen, sich Zeit nehmen konnten, unsere Fragen zu beantworten.